Der gelbe Stern

Gerhard Schoenberner war einer der Ersten nach dem Zweiten Weltkrieg, der sich öffentlich mit dem Holocaust auseinandergesetzt hat. Er bekam für sein Engagement mehrere Auszeichnungen, was eigentlich traurig ist, dafür ausgezeichnet zu werden, aber es wurde bekanntlich jahrelang versucht, das Thema unter den Teppich zu kehren, die Nazis saßen noch breit auf ihren Sesseln, die hatten sich nach dem Krieg ja nicht in Luft aufgelöst. Außerdem waren die Menschen damit beschäftigt, ihr Land und ihr Leben wieder aufzubauen und die Kriegsschrecken zu vergessen.

So schreibt Schoenberner in seinem Vorwort: „Erreichen uns diese Bilder eines düsteren Grauens noch in der Geschäftigkeit unserer eilig restaurierten Existenz?“

Inzwischen sind wir überschüttet mit Bildern des Elends, daß Stimmen laut wurden, es müsse mal damit Schluss sein. Erreichten die Bilder die Menschen damals nicht, weil es keine gab, so erreichen sie sie heute vielleicht innerlich nicht mehr.

Schoenberner: „Sind sie nicht fast schon wieder eine Lüge, wie sie uns heute vor Augen treten, auf Kunstdruckpapier und sauber gebunden, gefiltert aus der Wirklichkeit, aber ohne ihren Schmutz, ohne die Blutflecke und ohne die Schreie der Angst?“

Ich erinnere, wie meine Mutter mir das Buch damals reichte, stumm, mit einem bleichen, starren Gesicht.

Gerhard Schoenberner
Der gelbe Stern
Die Judenverfolgung in Europa 1933-1945

Die Gedankenwelt der Täter

Dieses Buch liegt der berühmten Verfilmung aus dem Jahre 1978 über das Schicksal der jüdischen Familie Weiss zugrunde.

Am 20. Januar 1942 fand die Wannseekonferenz statt, auf der die Deportation aller europäischen Juden in den Osten beschlossen wurde, um sie dort zu ermorden.

Das Erschütternde und Außergewöhnliche an dem Roman ist der literarische Kunstgriff des Autors, dem Leser die innere Logik der Gedankengänge der Mörder nahe zu bringen.
Das kann die zu Recht gelobte Verfilmung nicht leisten.

Die Gedankenwelt der Täter mit ihren mörderischen, aber in sich logischen Argumentationsketten kennenzulernen, hebt das Buch von anderer Literatur zum Thema ab und ist deshalb außergewöhnlich.

Galizien, die zerstörte Welt

Eine der gelungensten Anthologien ostjüdischer Geschichten, gelungen durch seine Vielfalt und die Auswahl der Schriftsteller.

Der Nobelpreisträger Samuel Josef Agnon, der wie nur wenige die Atmosphäre jüdischer Welten wiederzugeben vermag. Scholem Alejchem natürlich, neben Jizchak Leib Perez einer der Begründer der modernen jiddischen Literatur; Rose Ausländer und Paul Celan aus Czernowitz, Chaim Nachman Bialik, Nobelpreisträger Isaac Bashevis Singer, der unvergessene Joseph Roth, Manès Sperber und viele andere bedeutende Dichter und Schriftsteller mehr.

Die Geschichten spielen im zerstörten Galizien, heute Ukraine und Polen. Sie sind versehen mit Bildern, Zeichnungen und Radierungen von Ephraim Mose Lilien. Lilien stammt aus Drohobycz, wie Bruno Schulz, das ist lange her. Zerstört wurde diese Welt der Wunder, der Armut und Gläubigkeit von den Nationalsozialisten. Durch diese großen Erzähler kann sie in uns wiederauferstehen.

Der Titel des Buches stammt aus der ‚Todesfuge‘ von Paul Celan.

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Dein aschenes Haar, Sulamith
Ostjüdische Geschichten
Diederichs Verlag

Moyshe Kulbak – Ein großer Dichter und Opfer Stalins

Moyshe Kulbak, geb. 1896 bei Wilna, war ein jiddischsprachiger Dichter, Schriftsteller und Theaterautor, Lehrer, Übersetzer und zeitweise Vorsitzender des PEN-Zentrums für jiddische Literatur.

Sein „kleiner Roman“ erzählt von dem Hebräischlehrer Mordkhe Markus in seiner Dachkammer, der über die philosophischen Fragen zur Zeit der russischen Revolutionen 1917 nachsinnt. Dabei ist die Übersetzung von Sophie Lichtenstein aus dem Jiddischen so nah am Original, daß man fast glauben kann, die Geschichte auf Jiddisch zu lesen. Die Menschen werden so detailliert und liebevoll beschrieben, daß man meinen möchte, neben ihnen zu stehen und ihr Lebensgefühl zu teilen.

Moyshe Kulbak wurde 1937 in Minsk verhaftet und nach einem stalinistischen Schauprozess erschossen.

„Mordkhe blätterte das Buch Hiob auf. In die andere Hand nahm er das Lämpchen und verließ mit stillen, vorsichtigen Schritten das Häuschen.
Sein Gesicht war von Tränen nass und sehr blass. Ihm war, als würde er jetzt hinausgehen, um über den Untergang der Welt zu klagen.
Das enge, dunkle Gässchen war einsam und kahl.“

Eine sehr gute Beschreibung von „Montag“ fand ich von Stefanie Weiler bei Literaturkritik.de : „Sophie Lichtenstein übersetzt mit Moyshe Kulbaks „Montag – Ein kleiner Roman“ ein fast vergessenes Stück Weltliteratur.“ (<- Link)

Unfreiwilliges Leben in der Fremde

Wie ging es den Menschen, die vor den Nazis und der Vernichtung flohen? Wolfgang Benz lässt die „kleinen Leute“ zu Wort kommen, die hinter den Schlagwörtern Flucht und Exil stehen, die nicht Prominenten, nicht politischen oder literarischen Emigranten.

Hier erzählen sie über ihr Leben und ihre Empfindungen, den Aufbau einer neuen Existenz in der Fremde, ihren Alltag im Exil, sei es in Bolivien, Argentinien, Mexiko, Rio, Stockholm, Jamaika, Afrika, Shanghai oder anderen Staaten, ihre Suche nach Identität nach der Entwurzelung. Dreißig Lebensgeschichten.

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Die Verjagten

„Traditionelle Lehrbücher suggerieren durch Betonung der nationalen Gemeinschaft, dass man in der Not nicht allein ist. Dabei ist eine der schmerzlichsten Erfahrungen der Flüchtlinge, auf die sie zumeist infolge der Verschleierungstaktik nationaler Märchenonkel gar nicht vorbereitet sind, dass ihre Mitbürger, bei denen sie nach Flucht und Vertreibung unterkommen, sie gar nicht mit offenen Armen empfangen, sondern dass ihnen Misstrauen und Abneigung entgegenschlagen, vor allem, wenn sie in großen Massen auftauchen.“
Jan M. Piskorski

Piskorski eilt durch hundert Jahre Flucht und Vertreibung in Europa, wofür dieses Buch mit seinen nur 400 Seiten einem mit dem Thema gut vertrauten Leser eine bereichernde Zusammenfassung mit ergänzenden Details geben dürfte. Wer sich aber einen Überblick erhofft, in welchem Land zu welcher Zeit mit welchen politischen Hintergründen es zu Flucht und Vertreibung kam, dürfte sich verlieren. Ein fast durchgehender Text mit zu wenig Kapiteln und fehlender Gliederung erschwert die Orientierung. Es fehlt ein Kompass, es fehlt an Klarheit, an welcher Stelle der Geschichte der Autor sich jeweils befindet. Für Historiker und wer die Ereignisse des letzten Jahrhunderts sicher parat hat bestimmt ein Gewinn, ansonsten ist beim Lesen unter Umständen viel Recherchearbeit nötig.

Eine wichtige Korrektur muss ich anbringen: Auf Seite 104 schreibt Piskorski, daß die St. Louis mit ihren neunhundert jüdischen Flüchtlingen an Bord 1939 von Kuba abgewiesen worden sei, weil die Passagiere nicht die erforderlichen Einwanderungspapiere besessen hätten. Das ist nicht richtig. Wie Hans Herlin in seinem genauestens recherchierten Buch „Die Tragödie der St. Louis“ untersucht hat, war dies ein Gerücht, um einen Vorwand zu haben, die Juden nicht aufnehmen zu müssen. In Wirklichkeit wollte der kubanische Präsident plötzlich von jedem Juden Geld für die Einreise, das die Flüchtlinge aber nicht aufbringen konnten.

Jan M. Piskorski
Die Verjagten
Siedler Verlag, München 2013
ISBN 9783827500250
Gebunden, 432 Seiten

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Überlebt

Ein kostbares Buch. Geschrieben hat Schlomo Samson es in Israel auf Hebräisch und danach selbst in seine erste Muttersprache Deutsch übersetzt, nachdem er fünfzig Jahre nur Hebräisch gesprochen hatte.

Samson lässt sich Zeit beim Erzählen. Man kann mit ihm zusammen in die Vergangenheit eintauchen. Ausführlich und detailreich beschreibt er auf 528 Seiten seine Kindheit, die Trennung der Familie durch die Flucht, seine Ausbildung auf den Schulfarmen für Hachschara-Pioniere zur Vorbereitung auf das Leben in Palästina, das Leben im Durchgangslager Westerbork und im Konzentrationslager Bergen Belsen, die Befreiung, seine Einwanderung in Palästina am 2.4.1946.

Das für mich beeindruckendste Kapitel ist der Aufenthalt im Lager Westerbork. Samson schreibt, wie die jüdischen Gefangenen ihren Glauben, ihre Feste und Rituale unerschütterlich weiter leben trotz der katastrophalen Bedingungen im Lager. Seine Erzählungen werden besonders anschaulich durch Dokumente, Briefe, Tagebucheinträge, Fotos. Er ist beim Schreiben nicht auf Wirkung aus, die Wirkung entsteht durch die Authentizität seines Berichts und die ruhige Erzählweise.

Schlomo Samson:
Zwischen Finsternis und Licht
50 Jahre nach Bergen-Belsen
Erinnerungen eines Leipziger Juden
Verlag Rubin Mass, Jerusalem

Schlomo Samson 1941

Geraubte Kinder

booknode.com

Den schwangeren Frauen, die während der Militärdiktatur in Argentinien als „Verschwundene“ ins Konzentrationslager kamen, wurde gleich nach der Geburt das Kind weggenommen und die Mütter wurden ermordet. Die Kinder kamen zu hohen Militärs und wurden zwangsadoptiert.

„Verschwundene“ (desaparecidos), weil es keine offiziellen Verhaftungen gab und Anklage und Gerichtsprozess schon gar nicht. Vermeintliche Regimegegner wurden von der Junta verschleppt und ihre Angehörigen sahen sie nie wieder. Sie wurden gefoltert, erschossen oder über dem Meer abgeworfen. Nur wenige der Verschwundenen überlebten den Terror der von 1976 bis 1983 andauernden Militärdiktatur in Argentinien, während der 30.000 Menschen ermordet wurden.

Elsa Osorio schildert hier in Romanform das Schicksal der Luz, die herauszufinden versucht, wer ihre wahren Eltern sind. Sie wuchs in einer Militärfamilie auf. Die Geschichte ist fiktiv, steht aber für hunderte wahre.

Osorio bekam für ihr Buch den Literaturpreis von Amnesty International.

Elsa Osorio wurde 1952 in Argentinien geboren. Sie ist Journalistin, Dozentin, Drehbuchautorin und Schriftstellerin und lebt überwiegend in Madrid.

Originalausgabe 1998 „A veinte años, Luz“ bei Alba Editorial S.L., Barcelona. Die Übersetzung schuf Christiane Barckhausen-Canale.

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Ein Kind unter der Militärdiktatur

Das Leid der Kinder, das die Erwachsenen nicht sehen. Nicht in Friedenszeiten, wenn Familienkrieg herrscht, und in Kriegszeiten genauso wenig. Da bekommen die Kinder auf der einen Seite zu hören, sie seien noch zu klein, um „die Dinge“ verstehen zu können, auf der anderen wird von ihnen verlangt, sich wie Erwachsene zu verhalten.

Laura ist sieben, als sie mit ihrer Mutter in den Untergrund gehen muss. Die Eltern kämpfen gegen die argentinische Militärherrschaft, der Vater sitzt im Gefängnis. Laura versteht sehr gut, warum sie und ihre Mutter in einem Versteck leben müssen. Sie versteht sehr gut, obwohl die Erwachsenen so wenig erklären, weil sie noch zu klein sei. Verhaltensmaßregeln bekommt sie eingetrichtert und Laura versucht, alles zu befolgen. Es wird auch von ihr verlangt, daß sie alles befolgt, sonst würde sie andere in Gefahr bringen. Und doch macht sie Fehler, dann wird sie angeschrien, ob sie denn nicht wüsste, wie gefährlich das sei, was sie getan habe. Laura sieht ein, daß sie einen schlimmen Fehler gemacht hat, sie will sich ja wie eine Erwachsene benehmen, sie will ja alles richtig machen, sonst hat sie Schuld. Niemand sieht Lauras Leid. Niemand hat Nachsicht mit ihr, keiner spielt mit ihr oder nimmt sie in den Arm. Der Widerstandskampf zählt, das Kind läuft nebenher.

Die Autorin schreibt die Geschichte aus der Sicht des Kindes. Seine Überforderung und seine Angst sind beklemmend. Wie Laura ergeht es Millionen von Kindern, deren Seelen Opfer von Politik und Gewalt werden.

Laura Alcoba: Das Kaninchenhaus
Aus dem Französischen von Angelica Ammar
Insel Taschenbuch 2012, 122 S.
(Manège. Petite histoire argentine, Éditions Gallimard Paris 2007)

Laura Alcoba, geboren 1968 in La Plata, Argentinien, flüchtete 1978 mit ihrer Mutter nach Paris. Sie ist heute Schriftstellerin, Übersetzerin und Universitätsdozentin.

Foto escritores.org

Esther Singer Kreitmann – Die unterschätzte Schriftstellerin

Esther Singer Kreitmann war eine jiddische Schriftstellerin und Übersetzerin. Viele kennen nur ihre berühmten Brüder Israel Joshua und Nobelpreisträger Isaac Bashevis Singer. Dabei ist deren Schwester genauso bemerkenswert.

Ihr wurde als Tochter aus einer chassidischen Familie, der Vater Rabbi, eine Ausbildung verweigert, obwohl ihre Mutter hochgebildet war. Aber Esther bildete sich selbst, in Literatur und Sprachen, und sie schrieb Erzählungen, von denen sie leider viele entmutigt vernichtete. Von ihren schreibenden Brüdern erfuhr sie keine Unterstützung. Ein Band Erzählungen und zwei autobiographische Romane sind der Welt erhalten geblieben.

Das Leben der Familie Singer, die Kindheit, haben Israel Joshua in „Eine Welt, die nicht mehr ist“ und Isaac Bashevis in „Mein Vater der Rabbi“ beschrieben. In „Deborah“ sieht man die Kindheit aus der Perspektive des Mädchens.

Hinde Esther, 1891 in Bilgoraj, Polen geboren, zog nach einer arrangierten Ehe mit ihrem Mann nach Antwerpen (Buch: „Brilyantn“) und nach der Scheidung nach London, wo sie schrieb und u.a. Dickens und Shaw ins Jiddische übersetzte. Sie starb 1954.

Esthers Sohn Morris Kreitmann ist unter dem Namen Maurice Carr ein bekannter Journalist in Israel.

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„Es war Shabes. Sogar der Wind und der Schnee unterbrachen ihre Arbeit.“

„Es war still in dem Dorf, aber nirgendwo war die Stille so eindrucksvoll wie in dem großen Haus neben der Synagoge, das gegenüber dem Weideland der Gemeinde und dem gefrorenen Fluss stand. Hier lebte der Rabbi.“

„Und, Vater, was werde ich eines Tages werden?“
„Was du eines Tages werden wirst? Nichts, natürlich!“


Esther Singer Kreitmann, Deborah – Narren tanzen im Ghetto
Aus dem Jiddischen übertragen von Abraham Teuter
Frankfurt 1985

Die verdrängte Schuld der Emigrierten

Isaac Bashevis Singer

Die Juden und Amerika – meist verbergen sich dahinter Flucht und Vertreibung, auch wenn die Begriffe nicht verwendet werden, lieber die beschönigenden Exil oder Emigration, als würde es sich um eine freie Entscheidung handeln.

Auch Emigration, sieht man genau hin, ist selten eine freie Entscheidung, vielmehr eine Flucht mit legalisierenden Papieren aufgrund von Vertreibung in Form drohender Gefahr.

Als diese Gefahr sich über Europa abzeichnete, emigrierten viele Juden nach Amerika, zumindest diejenigen, die die Mittel dazu hatten und sich entschließen konnten, einen Großteil ihrer Familie zurückzulassen, die dann im Holocaust umkamen, während man selbst seine Haut gerettet hatte.

Wie verkraftet man das? Gar nicht. Und davon handelt dieses Buch. Subtil, zwischen den Zeilen, auf den ersten Blick nicht sichtbar, wie das bei inneren Ereignissen eben ist.

Sieht jemand nur auf das Romangeschehen und möchte sich davon unterhalten lassen, mag er sich fragen, was die 635 Seiten ausschweifend geschilderten Handlungen und detaillierten Gespräche und Gedanken sollen. Darum geht es nicht. Es geht um das, was sich dahinter ausdrückt, um die Seelenfärbungen – oder vielmehr Verfärbungen – der Beteiligten, meisterhaft von Nobelpreisträger Singer dargestellt. Es geht um den inneren Zusammenbruch hinter den intakten Fassaden der Davongekommenen und ihrer Heimat Beraubten.

Isaac Bashevis Singer:
Schatten über dem Hudson
Verlag Hanser
München Wien 2000


Louis Begley: Lügen in Zeiten des Krieges

„Ein Kind erzählt den blanken Horror mit solch einer Zärtlichkeit. Ich hab beim Lesen aufgehört zu atmen.“ (Manu)

Maciek wächst in Polen auf, stammt aus einer jüdischen Familie und verlebt unbeschwerte Kinderjahre – bis 1939, dann besteht sein Leben aus Flucht, Verstecken und Lügen. „Das Lügen war mir so sehr zur Gewohnheit geworden, daß ich zwanghaft log, ob ich wollte oder nicht.“

Was macht eine solche Kindheit aus einem Menschen? Auf die Antwort muss man bis zur letzten Seite warten, bis dahin beschreibt Maciek den Überlebenskampf der Familie in sachlichem Ton, kaum Erwähnung von Angst, einer inneren Regung in ihrem gehetzten Leben, in dem sie ständig auf der Hut sein müssen; als Leser vermute ich hinter jeder Ecke die Verfolger. Doch ändert sich sein Ton immer sofort, wenn er von seinem Kindermädchen, seiner schönen Tante oder seinem Großvater spricht, dann klingt so eine Zärtlichkeit aus seinen Worten, daß mir diese Menschen wie Blumen auf einem Schutthaufen erscheinen. Vielleicht hatte er keine Angst, weil er immer von einem liebenden Menschen beschützt war. Oder die Angst ist in seiner Erinnerung vor der Liebe in den Hintergrund gerückt.

Aber wahrscheinlich schreibt Maciek nicht über seine Angst, weil er sie nicht erträgt. Das Ende des Krieges bedeutet kein Ende des Schreckens, es geht sofort weiter mit Pogromen gegen Juden, es bedeutet kein Ende des Lügens, weiterhin verstecken sie ihre jüdische Identität, leben unter falschem Namen und beteiligen sich nicht einmal an dem Protest gegen die Pogrome.

Was macht eine solche Kindheit aus einem Menschen? In den allerletzten Zeilen nimmt der Autor Abstand zu Maciek, dem Kind, das uns ein ganzes Buch lang seine Kindheit beschrieb, und es erschließt sich, warum Roman unter dem Titel steht. Plötzlich spricht er von dem Mann, der er jetzt ist, in dem nichts mehr ist von Maciek, den gibt es nicht mehr, der hatte „eine Kindheit, die zu erinnern er nicht ertragen kann; er hatte sich eine Kindheit erfinden müssen.“

Louis Begley
Lügen in Zeiten des Krieges
Suhrkamp
Frankfurt/Main 1994